Der Faktor Mensch im Cockpit

Worin sind Menschen besonders gut? Worin weniger gut? Welche Rückschlüsse lassen die Antworten auf Entscheidungen im Cockpit zu? Darum und um manches mehr ging es bei einem Seminar der Flugschule Advanced Aviation Training in Bonn/Hangelar zum Thema Ressourcen Management im Single Pilot Cockpit.

von Patrick Holland-Moritz

Der Autopilot entlastet den Piloten und schafft so freie Resourcen. © https://www.pexels.com/de-de/

Der Mensch ist bei Flugunfällen einer der wesentlichen Faktoren. „Etwa ein Fünftel der Berichte über Unfälle und Störungen mit nicht kommerziell betriebenen Kleinflugzeugen identifiziert Probleme mit menschlichen Faktoren (Human Factors) oder menschlicher Leistung (Human Performance)“, schreiben die Autoren des EASA Annual Safety Reviews 2021 im Kapitel über nicht gewerblich betriebene Kleinflugzeuge bis 5,7 Tonnen Abflugmasse. Andere Quellen gehen von einem Anteil des Menschen an Flugunfällen von bis zu 80 Prozent aus. Nicht berücksichtigt ist in den Statistiken die nicht messbare Dunkelziffer. Wie auch immer die Zahlen exakt aussehen mögen: Es besteht Handlungsbedarf. „Man stelle sich ein Bauteil in einem Flugzeug mit so einer hohen Fehlerrate vor. Das würde niemals eine Zulassung bekommen“, sagt Tobias Keßler. Er ist Verkehrspilot, Ausbilder und hat sich auf das Thema Human Factors spezialisiert – und ist Referent des Seminars „Single Pilot Ressource Management“. Ausrichter ist die Flugschule Advance Aviation Training in Bonn/Hangelar, die das Magazin aerokurier zur Teilnahme eingeladen hat.

Threat & Error Management

Voraussetzungen: persönliche und fliegerische Hintergründe (also der Pilot) Bedrohungen: PAUL

Management: sich selbst checken, Gäste briefen, Ressourcen freihalten, Check des Flugzeugs, Training (eventuell mit Lehrer)

Fehler: Schleppstange nicht entfernt, falsche Frequenz gerastet, falsche Einstellung des Autopiloten

Management: gute „Trigger“ setzen und konsequent einsetzen, Redundan- zen schaffen (z. B. in Form von Checklisten), Standardverfahren anwenden

Undesired Aircraft State (UAS): unerwünschter Zustand des Flugzeugs (navigatorische Fehler, leerer Tank, ungewollter Flugzustand)

Mitigation (Entschärfung der Situation): rational und bewusst ruhig bleiben, seinen eigenen Körper und dessen Reaktionen kennen, Abwehrmaß- nahmen, um einen kühlen Kopf zu bewahren (z. B. Atemübung)

PAUL: Risikofaktoren in der Luftfahrt

Pilot

Medizinisches Kenntnisse — Erfahrung — Charakterliches: Stärken und Schwächen — Einstellungen: Selbstüberschätzung, Leichtsinn, Zielfixierung, Prahlerei, Selbstgefälligkeit  — Mangelnde Vorbereitung und Training

Andere Menschen

Fluggäste — vorheriger Pilot — andere Piloten (im Luftraum) — Flugleiter (im Turm) — Besucher (auf du Flugplatz) — Mechaniker — zweiter Pilot — Fluglehrer — Familie und Freunde (zu Hause)

Umwelt

Wetter: Sicht, Wind, Dichtehöhe, Tuperatur — Gelände: Flugplatz, Elevation, Hindernisse  — Verkehr: Komplexität — Prozeduren: Verfahren

Luftfahrzeug

Fähigkeiten: Zuladung, Steigleistung, Reichweite, Geschwindigkeit, IFR—Ausrüstung, Druckkabine  — Zustand: Wartung, Jahresnachprüfung — Vorflugkontrolle: Betankung, Öl, Brusflüssigkeit, Hydraulik

Über Fehler sprechen

„Ziel des Seminars ist es, den Teilnehmern eigene Schwächen bewusst zu machen, mit Irrtümern aufzuräumen und zur Selbstreflexion anzuregen“, erklärt Tobias Keßler. Warum steht der Mensch immer wieder als Unfallursache im Fokus? Wie lässt sich dem entgegenwirken? Wo liegen die besonderen Herausforderungen im Single Pilot Cockpit? In vertrauensvoller Atmosphäre soll ein wichtiger Beitrag für mehr Flugsicherheit geleistet werden.

Am Anfang steht ein Resümee eigener Erfahrungen. Die Teilnehmer, mit einer Ausnahme allesamt erfahrene Piloten, sollen besonders positive oder negative Erlebnisse aus dem Cockpit in die Runde einbringen. Zur Sprache kommen fast ausnahmslos negative Momente, während positive Erlebnisse kaum eine Rolle spielen. Einflug in schlechtes Wetter, falsche QNHEinstellung am Höhenmesser, vermasselte Spritplanung, Übelkeit der Passagiere. Allzu tief ins Detail soll es an dieser Stelle nicht gehen, denn „What happens in Vegas, stays in Vegas“ lautet die Vereinbarung. Deutlich wird, dass niemand aus der Runde vor Fehlern gefeit ist und sich negative Flugerlebnisse tief ins Bewusstsein einbrennen. Die Auseinandersetzung mit menschlichen Faktoren basiert auf einem hohen Maß an gegenseitigem Vertrauen.

Die nächste Runde geht direkt an den Kern des Seminars. Jeder Teilnehmer erhält ein Kärtchen mit einer Handlung. Auf einer Tafel soll eingeordnet werden, ob Menschen diese Tätigkeit gut oder schlecht beherrschen. Der Bezug zum Cockpit ist schnell hergestellt und über manche Punkte wird kurz diskutiert.
Das Ergebnis ist ernüchternd: Die meisten Handlungen sind in Menschenhand nicht besonders gut aufgehoben. Zwar mag der Mensch im Ausprobieren von Lösungen und in der kreativen Analyse von Fehlern gut sein, doch bei vielen der auf den Arbeitskarten genannten Handlungen sind sich die Teilnehmer einig darüber, dass der Computer dem Menschen überlegen ist. Manch ein Pilot mag gut darin sein, Prioritäten zu setzen, doch sind es auch die richtigen? Ein Fall für eine neutrale Einordnung.

Zweifellos ist es für einen Piloten auf einem langen Flug ermüdend, Kurs und Höhe zu halten, gleichzeitig die Instrumente zu überwachen und sich Funk und Navigation zu widmen. Die Steuerung des Flugzeugs darf er also guten Gewissens an den Autopiloten abgeben. „Der Autopilot ist weder der Feind noch ein Allheilmittel. Er ist ein Helfer, der gerade im Single Pilot Cockpit Kapazitäten für andere Aufgaben schafft“, sagt Tobias Keßler. Für einen Sicherheitsgewinn muss der Pilot das Paket aus digitaler Avionik und Autopilot allerdings verstehen. „Bei komplexen Systemen wie dem Garmin G1000 kann es schon mal 100 Stunden dauern, bis der Pilot alle Funktionen sicher beherrscht“, bringt ein Teilnehmer seine persönliche Erfahrung ein.

Fazit dieser Übung: Der Mensch hat einige Stärken, viele Schwächen und bildet im Zusammenspiel mit der Technik ein gutes Team. Digitale Helfer schaffen Kapazitäten im Kopf, die der Pilot nutzen kann, um im Ernstfall richtige Entscheidungen zu treffen.

I’m safe

Mit diesu Merksatz können sich Piloten selbst auf den Prüfstand stellen.

Illness: Bin ich gesund? Medication: Stehe ich unterdu Einfluss von Medikamenten?

Stress: Gibt es Stressfaktoren, die den Flug beeinflussen könnten?

Alcohol: Bin ich nüchtern?

Fatigue: Bin ich erschöpft?

Emotion: Gibt es emotionale Faktoren? (positive oder negative)

Beispiele für menschliche Fehler

Zwei Flugunfälle, die die Schwächen menschlichen Denkens offenbaren, führt Tobias Keßler im Seminar exemplarisch an. Im September 2003 verunglückte eine F-16 der Thunderbirds in den USA. Der Pilot leitete nach dem Start eine Rolle zum Beginn eines Split-S-Manövers in zu niedriger Höhe ein. Der Abfangbogen des folgenden Loopings konnte nicht vollendet werden, der Crash war unausweichlich. In allerletzter Sekunde wurde dem Piloten sein Fehler bewusst und er schoss sich mit dem Schleudersitz aus dem Cockpit, der Jet ging in einem Feuerball auf. Der Unfall macht deutlich: Auch erfahrene und intensiv trainierte Piloten sind vor simplen Fehlern nicht gefeit – es kann jedem passieren! Der Fähigkeit, selbst unter maximaler Belastung und unter dem Eindruck größter Emotionen, rationale Entscheidungen zu treffen, geht langjährige mentale Konditionierung voraus.

Im November 2011 verunglückte der Pilot einer Cirrus in den USA im schlechten Wetter. Er stand unter dem selbst erzeugten Druck, seinen Zielflugplatz in der Nähe von Chicago zu erreichen und wollte noch am selben Tag wieder nach Hause zurückkehren. Er verpasste die Chance zum Umkehren, ignorierte die Hinweise der Flugsicherung für einen Ausweichplatz und vergaß vor dem Absturz auch noch, das Gesamtrettungssystem zu aktivieren. Dieses Beispiel eines ungewollten Einflugs eines VFR-Piloten in Instrumentenflugbedingungen verdeutlicht den Teilnehmern, die zuvor mit Hilfe von PAUL erarbeiteten möglichen Fehler und Bedrohungen. In der Regel ist es nicht der einzelne, isolierte Fehler, der die Ursache eines Unfalls darstellt. Vielmehr ist es meistens eine Kombination aus mehreren Faktoren, für die sich Piloten sensibilisieren sollten.

Dem Gehirn auf der Spur

Doch wie entstehen Entscheidungen im menschlichen Gehirn? Der Referent wirft den Teilnehmern in schneller Folge Rechenaufgaben um die Ohren. Sie zu lösen – keine Chance. Dann die Frage in die angestrengte Runde: „Und jetzt nennt mir eine Farbe und ein Werkzeug.“ Bei fast allen kommt es wie aus der Pistole geschossen: „Rot und Hammer.“ Für diese Antwort gibt es eine Erklärung. Das Gehirn befindet sich durch die herausfordernden Aufgaben am Rande seiner Belastungsgrenze. Als Reaktion auf die zusätzliche Anforderung in Form der Frage greift es auf bekannte, evolutionär geprägte Muster zurück. Keßler: „Darin verbirgt sich eine Gefahr. Unsere kognitive Wahrnehmung wird verzerrt und wir schließen – übertragen auf zeitkritische Situationen im Cockpit – unter Umständen falsche Rückschlüsse.“

Grundsätzlich konkurrieren im Gehirn zwei Systeme miteinander. Die Abteilung „Intuition und Instinkt“ arbeitet unbewusst, schnell, assoziativ und ist bestrebt, möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Dem steht ein zweites System für rationales Denken gegenüber. Dominierend ist System eins, dessen Anteil 95 Prozent beträgt. Wie schnell der Mensch mit dieser Konstellation im Kopf falsche Entscheidungen im Cockpit treffen kann, zeigen einige Beispiele.

Die Aufgabe lautet, eine Zahlenfolge zu lesen. Einfach, oder? Erst mit Blick auf die Buchstabenfolge A B C kommen Fragen auf: Ist die 13 vielleicht ein B? Es folgt eine Knobelaufgabe: Ein Kaffee und ein Keks kosten zusammen 1,10 Euro. Der Kaffee kostet einen Euro mehr als der Keks. Also kostet der Keks 10 Cent, sind fast alle Teilnehmer überzeugt. Das Gehirn springt zur naheliegendsten, aber falschen Lösung. Richtig ist, dass der Keks 5 Cent und der Kaffee 1,05 Euro kosten muss (sonst betrüge die Differenz ja nur 90 Cent und nicht einen Euro). Wer nachrechnen möchte, findet den Lösungsweg im Internet, oft mit Ball und Schläger statt mit Kaffee und Keks. Zuletzt noch das altbekannte Beispiel vom Text mit vertauschten Buchstaben. Solange Anfangs- und Endbuchstaben eines Worts stimmen, kombiniert sich das Gehirn aus einem wirren Buchstabensalat den Sinn ganzer Texte zusammen.

Grundlage für die folgende Gruppenarbeit ist PAUL, den der Referent vorstellt. Der Name des virtuellen Piloten ist ein Akronym, das für Risikofaktoren in der Luftfahrt steht. Welche sich hinter den einzelnen Buchstaben verbergen, gilt es herauszuarbeiten (siehe Tabelle). „PAUL hilft uns, die zahlreichen Bedrohungen verschiedener Herkunft zu reflektieren und die möglicherweise nicht unmittelbaren Auswirkungen auf unseren Fliegeralltag bewusst zu machen“, sagt der Experte. PAUL, empfiehlt er, soll künftig immer in der Fliegertasche dabei sein.

Damit ist die Überleitung zum „Threat and Error Management“ gemacht. Dieses Modell veranschaulicht Fehler, die zumeist selbst induziert sind, sowie Bedrohungen als externe Faktoren und deren Umgang (Management) damit. Grundlagen sind das Käsescheiben-Prinzip sowie das Bild von der Fehlerkette. „Intuitiv und manchmal mit Selbstverständlichkeit akzeptieren wir Bedrohungen, die vielleicht von vorneherein beseitigt werden könnten“, sagt Keßler. Die Teilnehmer sollen sich über bereits genutzte, persönliche Abwehrstrategien austauschen und voneinander lernen. Ziel ist es, das Potential der Piloten zu entfalten. „Share your Experience“ heißt das Stichwort.

Dieses Schema ist gleichzeitig die Grundlage, um im Debriefing einen Flug zu analysieren, denn auch das ist eine Erkenntnis des Seminars: „Den perfekten Flug gibt es nicht.“ Der Umgang mit Risiken ist ein Dreiklang: präventiv, akut und reflektiv – vorbeugen, im Cockpit handeln und über begangene Fehler reflektieren. „Wenn wir das regelmäßig schaffen, und das vielleicht noch mit einem oder mehreren Vertrauten teilen, dann nutzen wir eine große Chance, um unseren Fliegeralltag beständig ein bisschen sicherer zu machen.“

Am Ende des Tages sind sich die Teilnehmer einig darüber, dass sie ihr Bewusstsein für Fehler geschärft haben, es aber auch künftig notwendig sein wird, über den Faktor Mensch zu reflektieren. „Das Training im Bereich Human Factors ist wichtig, sonst wäre es in der Verkehrsfliegerei nicht so etabliert.“ Keßler nennt noch einen wesentlichen Punkt: „Das Fliegen im Single Pilot Cockpit ist wegen seiner knappen menschlichen Ressourcen teils anspruchsvoller als im Multi-Crew-Cockpit.“

Über Tobias Kessler

Tobias ist Ausbilder in der Allgemeinen Luftfahrt sowie in der Verkehrsluftfahrt. Er ist CRM-Trainer und Assessor und beschäftigt sich mit großem Interesse mit dem Faktor Mensch und der Rolle der Human Factors in der Fliegerei, aber auch in anderen Branchen, in denen vergleichbare Herausforderungen herrschen.

Hauptberuflich ist er als Senior First Officer und Type Rating Instructor (TRI) auf der Boeing 777 bei Lufthansa Cargo beschäftigt. Zuvor flog er für Lufthansa Cargo auf der MD11F. Seine Karriere als Verkehrspilot startete er bei Lufthansa CityLine auf dem Canadair Regional Jet, sowie dem Avro RJ85.

Seit seiner Segelflug-Ausbildung, die er ausnahmsweise schon im Alter von 13 Jahren beginnen durfte, hat Tobias nie den Kontakt zur Allgemeinen Luftfahrt verloren. Unter anderem beobacht er seit langem die General Aviation Szene in den USA. Wann immer sich die Gelegenheit bietet, fliegt er dort auch privat und lässt sich von praxisorientierten Trainingskonzepten inspirieren. Darüber hinaus ist er als Class Rating Instructor CRI(A) und Instrument Rating Instructor IRI(A) tätig.

Mit Advanced Aviation Training will er den professionellen Trainingsansatz der Verkehrsluftfahrt in die Cockpits der Allgemeinen Luftfahrt bringen.

Weiter Informationen findest du unter advanced-aviation.de.

Besonderer Dank an Patrik Holland-Moritz, das Magazin aerokurier und Tobias Keßler, die Flugschule AAT Advanced Aviation Training

Mental Health Aviation Content – ein Projekt der GGM, Gesellschaft für Gesundheit und Medien

Patrick Holland-Moritz